Die LAG hat 2009 verschiedene Projekte beraten.
Die interessantesten Projekte stellen wir hier vor.


 

Über den Dächern von Willich 

Ein kurzer Anlauf, ein fester Griff an die Feuerwehrstange des Spielplatzgerüsts – und ein Teenager nach dem anderen ist oben. Die Bewegungen sind fließend. Scheinbar mühelos schwingen sich die Willicher Jugendlichen in zwei Meter Höhe. Von dort geht es über eine Hängebrücke. Allerdings nicht zu Fuß und auch nicht obenauf: Rückwärts hängen die Teenager unter den schaukelnden Brettern und hangeln sich mit allen vieren zur anderen Seite. Das ist der schwierigste Weg über dieses Klettergerüst – und den zu finden und zu meistern ist ihr Ziel.

Sie sind Traceure, Anhänger einer Sportart, für die man nur sich selbst braucht – samt Fitness, Konzentration und einem klaren Blick für die Umwelt. Ihr Sport heißt Parkour und ihr Sportplatz ist die Umwelt. Hindernisse werden nicht weggeräumt, sondern überwunden und das möglichst in schnellen geschmeidigen Bewegungen – seien es nun Stromkästen, Gelände oder im Extremfall Häuser. Ein Traceur nimmt immer den direktesten Weg zum Ziel – und den schwierigsten. Denn es geht darum, mit seinem Umfeld zu Recht zu kommen, es richtig einzuschätzen und zu überwinden.

„Dafür braucht man einen klaren Kopf, weil man vor allem mit sich selbst klar kommen muss“, sagt Marion Tank, Streetworkerin in der 54.000 Einwohner Stadt Willich am Niederrhein. „Außerdem braucht man viel Fitness und einige technischen Kniffs.“ Dinge, die immer mehr Jugendlichen fehlen, hat sie beobachtet. „Viele Jugendliche, die sich draußen auf der Straße treffen, kiffen oder trinken so viel Alkohol, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen können.“

Dieser unkontrollierte Umgang mit Drogen habe in den letzten Jahren unter Jugendlichen in Willich zugenommen, so die Streetworkerin. Ein Dokumentarfilm über die Geschichte des Parkour brachte sie auf eine Idee, wie sich dieser Trend umkehren könnte. Berauscht funktioniert Parkour nämlich nicht. Und ohne Training auch nicht. „Es ist ein Sport, der mehr ist als Bewegung“, sagt Tank. „Er verändert die Perspektiven, die Einstellung zu sich selbst und schafft ein anderes Körpergefühl.“

Seit dem Sommer werden daher Jugendliche in Willich im Parkour ausgebildet. Drei Monate lang trainierten zwei professionelle Fitness-Trainer einmal wöchentlich zwölf Jugendliche zwischen
14 und 19 Jahren, die Tank von der Straße kennt. Seitdem sind sie Traceure, beherrschen etwa 17 grundlegende Techniken des Parkours und richten große Teile ihres Alltags an diesem Sport aus. „Die meisten gehen täglich mindestens eine Stunde laufen“, sagt Tank. „Und Parkour machen sie ständig, auf dem Weg zur Schule, in der Stadt – quasi überall.“ Seit November bilden diese Traceure selber andere Jugendliche im Parkours aus – „unsere zweite Generation“, sagt Marion Tank.

Mitvermittelt wird auch die Sportphilosophie: „Respekt vor den anderen, der Umwelt und sich selbst.“ Sehr wichtig ist der Streetworkerin auch, dass die Selbstdarstellung nicht im Mittelpunkt steht. „Die Jugendlichen sollen nicht zeigen, wie cool sie durch Parkours geworden sind, sondern andere an ihren Erkenntnissen teilhaben lassen“, sagt sie. „Es geht nicht um Selbstdarstellung, sondern um das Bewältigen von Herausforderungen.“ Auch dieses Prinzip sei gut bei den Jugendlichen angekommen.

Ungefährlich ist dieser Sport nicht – im Gegenteil. „Deshalb ist es ja auch so wichtig, dass die Jugendlichen das nicht unausgebildet machen“, sagt Tank. „Dass bei dem Sport nichts kaputt gemacht wird, ist Teil der Herausforderung.“ Bislang hätte es außer blauen Flecken keine Blessuren bei den Jugendlichen gegeben. Auch die erwachsenen Willicher haben sich bislang noch nicht über die Traceure beklagt. „Besorgt nachgefragt hat der eine oder andere schon bei der Stadt“, sagt Tank. Die Sportart mache Jugendliche natürlich im öffentlichen Raum sehr präsent. „Da wird es sicher auch noch zu Konflikten kommen“, vermutet Tank. „Aber auch aus diesen Auseinandersetzungen können Jugendliche etwas lernen. Wenn sie sich an die Regeln des Parkours halten, tun sie jedenfalls nichts Verbotenes im öffentlichen Raum. Sie müssen die Grenzen der Sportart eben abstecken. Das gehört dazu.“

Und ebenso die Begeisterung für die täglich neuen Szenen, die dieser Sport hervorbringt. Ihr Training haben die Jugendlichen gefilmt und bei Youtube ins Netz gestellt. Im neuen Jahr wollen sie eine Homepage für die wachsende Willicher Parkour-Community aufbauen – mit Parkoursfilmen, Tipps und Trainingsvorschlägen. Und zwischen täglichem Lauftraining, Situps und Sprungtraining bleibt für Drogen nicht mehr viel Platz. 

MIRIAM BUNJES  



Die Willicher Jugendlichen bei YouTube:
www.youtube.com/user/ParkourWillich


Parkour oder Le Parkour wurde in den 80er Jahren von dem Pariser David Belle entwickelt. Der lernte als Kind von seinem Vater – einem ehemaligen Vietnamsoldaten – im Wald die so genannte Méthode Naturelle. Bei dieser geht es um die Überwindung natürlicher Hindernisse. Als Jugendlicher übertrug Belle diese Methode auf die urbane Umgebung der Pariser Vorstadt Lisses. Zunächst jagten er und seine Freund sich spielerisch über Treppen, Tischtennisplatten und Papierkörbe. Später bezogen sie immer schwierigere Hindernisse wie Zäune, Baugerüste, Mauern – später auch Gebäudefassaden und Hochhäuser – mit ein.

Trainiert wird allgemein die Kondition und durch die ständige Wiederholung bestimmter Bewegungen und Techniken. Belle sieht Parkour nicht nur als Sport, sondern als kreative Kunst, durch die die eigenen und die Grenzen der Umwelt wahrnehmbar werden. Zur Philosophie des Parkours gehört es, die Vorraussetzungen für eine Technik abzuschätzen und im Auge zu behalten, ob durch diese eine Situation gefahrlos gemeistert werden kann. Zentral ist auch der Respekt vor der Umgebung und den Mitmenschen, da der Traceur auf diese angewiesen ist. Über allem hat Parkours auch eine gesellschaftliche Aussage: Der urbane Raum – immer stärker für kommerzielle und private Zwecke besetzt – wird zurückerobert, indem scheinbar festgelegte Funktionen aufgebrochen und verändert werden. 

Quelle: Wikipedia